Jenseits des Himalaya - Kapitel 1

(Leseprobe 07)


In Kalimpong begegnete ich einem Namensvetter, einem Herrn MacDonald, der das Himalayan Hotel leitete. Er war Halbtibeter, Sohn eines Herrn MacDonald aus Schottland, der britischer Handelsagent im tibetischen Yatung gewesen war und eine tibetische Frau geheiratet hatte.
Herr MacDonald und ich wurden Freunde. Er sprach perfekt Tibetisch, Hindi und Englisch, und ich war während unserer Zeit darum bemüht, so viel Tibetisch wie möglich zu lernen. Dass ich Hindi bereits sprach, vereinfachte die ganze Sache sehr.
Bis zum Eintreffen meines Visums für Tibet musste ich in Kalimpong warten, und während dieser Wartezeit machte ich mir viele Gedanken über den Fremden, den ich treffen sollte. Ich vermutete, ihn nicht vor meiner Ankunft in Tibet zu finden. Er hatte mich weder in Kalkutta noch bei meiner Ankunft in Kalimpong erwartet, aber ich erachtete es als albern umzukehren. Ich musste weitergehen. Etwas in mir sagte: „Du musst

Murdo MacDonald-Bayne: Jenseits des Himalaya

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3. Auflage April 2014

Softcover, A5 

212 Seiten

ISBN 978-3-943313-88-8

Buch, 210 Seiten, Jenseits des Himalaya

28,00 €

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weitergehen.“
Ich war drei Tage dort, als ich von meiner Bleibe in Richtung der Stadt ging. Ich sah einen Mann, der in einen purpurnen Umhang gekleidet war, der geringfügig purpurner als ein Lama-Umhang war. Er zog mich derart an, dass ich meine Augen nicht von ihm lassen konnte.
Er kam direkt auf mich zu und sagte in fließendem Englisch: „Du bist angekommen, mein Sohn.“ Ich war derart verblüfft, dass ich zunächst nicht antworten konnte, denn ich hatte nicht erwartet, jetzt in Kalimpong begrüßt zu werden, vor allem, weil ich bei meiner Ankunft nicht empfangen worden war.
Er legte seine rechte Hand auf meine linke Schulter und ich fühlte mich, als würde ich mit Elektrizität geladen. Dann sagte er: „Ich war eine lange Zeit bei dir, aber du wusstest es nicht.“ Ich kannte diese Worte, sie hatten schon lange in mir geklungen.
Dann offenbarte er mir, was er von mir wusste: Dinge, die ich tat, Dinge, die ich hätte tun sollen und Dinge, die ich vielleicht hätte lassen sollen, was nach allem, wie er erklärte, nicht besonders viel ausmachte.
Ich wusste, dass er eine lange Zeit bei mir gewesen sein musste, weil sich mein Leben für ihn wie ein offenes Buch las und es vollkommen überflüssig war ihm zu erzählen, wo ich gewesen war. Ich wünschte in jenem Moment am meisten ihm mitzuteilen, was ich wusste. Deshalb begann ich einen Diskurs über Philosophie und höhere Metaphysik. Ich fuhr so eine Zeit lang fort (ich kann Ihnen nicht sagen wie lange, da die Zeit zu verschwinden schien) und er hörte mir sehr ruhig zu. Ich dachte, dass ich Eindruck gemacht hätte oder dass ich wenigstens seines Interesses wert wäre. Dann äußerte er folgende Worte:
„Mein Sohn, es macht nicht besonders viel aus, ob es wahr ist oder nicht, oder?“ [...] (mehr)